Das T&L-Weihnachts-e-Buch 2010Technik & Leben e.V.

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Rückkehr aus Indien
von Nicolas Bouvier

Aus Asien heimzukehren, stellt ganz bestimmte Probleme.
Lange fühlte ich mich, aus Indien oder Japan zurückgekehrt, in der Schweiz nicht wohl. Geschäfte und Strassen flössten mir unerklärlichen Widerwillen ein. Die nahende Weihnacht, die einkaufende Menge, die von Gesundheit überkleisterten Gesichter, das Scheppern des Geldes und die rotgeäderte Haut deprimierten mich. Der einzige Ort, wo ich atmen konnte, wo ich echte Blicke kreuzte, war - halten Sie sich fest - das Spital. Aber es war doch mein Land, und ich hatte mich so gefreut, es wiederzusehen, und man hatte mich doch überall mit anhaltender Freundlichkeit empfangen! Also was? Ich glaube, es war das Geld, das mich störte.
Das Geld verstopfte alles. Und wegen eben dieses Geldes gab es keine Menschenmenge mehr; sie war gebrochen, geteilt wie eine Sandfläche durch die Maschen eines Netzes. Es gab nur kleine Vermögen, kleine Gehäuse, kleine möblierte, gepolsterte, eingerichtete Einsamkeiten, aber eben Einsamkeiten. Im Billardsaal, im Autobus hörte ich oft einen Satz, der mich verblüffte: «Ich brauche niemanden.» Es gab keine Gemeinschaft mehr. Gemeinschaft: das tiefe Gefühl, dass uns das Los eines jeden Mitmenschen etwas angeht und irgendwie betrifft, das Wissen um die gegenseitige Abhängigkeit.
Damit sie wieder aufleben konnte, brauchte es einen richtigen Schock - einen tödlichen Autounfall, einen ungarischen Aufstand - der klar macht, dass Geld nicht alles ist und dass das, was uns mit den Mitmenschen verbindet, wesentlicher ist als das, was uns trennt.
Anders gesagt, in normalen Zeiten brauchte man niemanden. Das stimmte nur allzu gut, und wie armselig! Hindus oder Chinesen, denen jederzeit der Reis oder die Fladenbrote ausgehen können, brauchen dauernd ihre Nachbarn, und die Nachbarn sie. Ein Bauer im Deccan kann wohl einen leeren Blick haben und so tun, als ob ihn die Dinge nichts angingen; aber um Mehl betteln, Mehl leihen oder sogar - wegen eines Flusses, der 200 Kilometer weiter oben über die Ufer tritt - das Haus plötzlich voller unbekannter Menschen haben, und das eine ganze Zeit lang, er kennt nichts anderes, das gehört zu seinem Alltag. Das macht eine Menge aus. Die Armut wird geteilt, und das ist der Grund, warum die Armen noch leben. Egoismus ist für sie unerschwinglich, viel zu teuer. Wohlstand wird nicht geteilt.
Und doch muss man aus der Armut herauskommen. Die Inder arbeiten daran, und wir wünschen, dass es ihnen gelinge. Ich wünsche ihnen jedoch auch, das Herz zu bewahren, das sie hatten, als sie nur dieses besassen.


Aus: Annemarie Schwarzenbach, Ella Maillart, Nicolas Bouvier: Unsterbliches Blau. Reisen nach Afghanistan. Scheidegger & Spiess 2003. Nicolas Bouvier schrieb den Text vor ca 50 Jahren.

T&L-Weihnachtsgeschichte 2003 • Ein Tipp vom Team des Buchladen 46 in Bonn. www.buchLaden46.de


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