Rückkehr aus Indien
von Nicolas Bouvier
Aus Asien heimzukehren, stellt ganz bestimmte Probleme.
Lange fühlte ich mich, aus Indien oder Japan zurückgekehrt,
in der Schweiz nicht wohl. Geschäfte und Strassen flössten
mir unerklärlichen Widerwillen ein. Die nahende Weihnacht, die
einkaufende Menge, die von Gesundheit überkleisterten Gesichter,
das Scheppern des Geldes und die rotgeäderte Haut deprimierten
mich. Der einzige Ort, wo ich atmen konnte, wo ich echte Blicke kreuzte,
war - halten Sie sich fest - das Spital. Aber es war doch mein Land,
und ich hatte mich so gefreut, es wiederzusehen, und man hatte mich
doch überall mit anhaltender Freundlichkeit empfangen! Also was?
Ich glaube, es war das Geld, das mich störte.
Das Geld verstopfte alles. Und wegen eben dieses Geldes gab es keine
Menschenmenge mehr; sie war gebrochen, geteilt wie eine Sandfläche
durch die Maschen eines Netzes. Es gab nur kleine Vermögen, kleine
Gehäuse, kleine möblierte, gepolsterte, eingerichtete Einsamkeiten,
aber eben Einsamkeiten. Im Billardsaal, im Autobus hörte ich
oft einen Satz, der mich verblüffte: «Ich brauche niemanden.»
Es gab keine Gemeinschaft mehr. Gemeinschaft: das tiefe Gefühl,
dass uns das Los eines jeden Mitmenschen etwas angeht und irgendwie
betrifft, das Wissen um die gegenseitige Abhängigkeit.
Damit sie wieder aufleben konnte, brauchte es einen richtigen Schock
- einen tödlichen Autounfall, einen ungarischen Aufstand - der
klar macht, dass Geld nicht alles ist und dass das, was uns mit den
Mitmenschen verbindet, wesentlicher ist als das, was uns trennt.
Anders gesagt, in normalen Zeiten brauchte man niemanden. Das stimmte
nur allzu gut, und wie armselig! Hindus oder Chinesen, denen jederzeit
der Reis oder die Fladenbrote ausgehen können, brauchen dauernd
ihre Nachbarn, und die Nachbarn sie. Ein Bauer im Deccan kann wohl
einen leeren Blick haben und so tun, als ob ihn die Dinge nichts angingen;
aber um Mehl betteln, Mehl leihen oder sogar - wegen eines Flusses,
der 200 Kilometer weiter oben über die Ufer tritt - das Haus
plötzlich voller unbekannter Menschen haben, und das eine ganze
Zeit lang, er kennt nichts anderes, das gehört zu seinem Alltag.
Das macht eine Menge aus. Die Armut wird geteilt, und das ist der
Grund, warum die Armen noch leben. Egoismus ist für sie unerschwinglich,
viel zu teuer. Wohlstand wird nicht geteilt.
Und doch muss man aus der Armut herauskommen. Die Inder arbeiten daran,
und wir wünschen, dass es ihnen gelinge. Ich wünsche ihnen
jedoch auch, das Herz zu bewahren, das sie hatten, als sie nur dieses
besassen.
Aus: Annemarie Schwarzenbach, Ella Maillart, Nicolas Bouvier:
Unsterbliches Blau. Reisen nach Afghanistan. Scheidegger & Spiess
2003. Nicolas Bouvier schrieb den Text vor ca 50 Jahren.
T&L-Weihnachtsgeschichte 2003 • Ein
Tipp vom Team des Buchladen 46 in Bonn. www.buchLaden46.de
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